Der Gurkenskandal, der wohl keiner ist

Ein Landwirt muss tonnenweise frische Gurken wegwerfen, weil der Einzelhandel sie ihm plötzlich nicht mehr abnimmt. Ein Video auf Facebook dokumentiert den scheinbar skandalösen Fall von Lebensmittel-Verschwendung, es wird innerhalb von zwei Tagen von 3,1 Millionen Menschen gesehen und tausendfach wütend kommentiert. Was ist dran am vermeintlichen Gurkenskandal?


 
Was ist passiert? Am vergangenen Samstag lädt die “Fränkische Illustrierte” ein Video auf ihrer Facebook-Seite hoch. “Riesensauerei im Lebensmittelhandel” steht in Großbuchstaben daneben. Zu sehen ist ein Acker in Franken, auf den Arbeiter tausende Minigurken aus grünen Plastikstiegen auskippen. Dann fährt ein Traktor mit einer Fräse über den grünen Gurkenteppich und pflügt ihn unter. Man möchte dem Bildschirm ein “Halt! Stop!” entgegenbrüllen. Warum würde ein Bauer so etwas mit seiner Ernte tun?
 
Der Landwirt beantwortet die Frage im Video selbst: Seit 14 Jahren produziere er Minigurken für den Einzelhandel. Jetzt plötzlich würde der aber fast nur noch in Plastik eingeschweißte Ware abnehmen: “In Köln bestimmen da junge Leute, die ihren Bachelor oder Master gemacht haben, vom Büro aus: Es gibt nur noch abgepackte Ware bei uns in den Läden.” Er meint die Einkäufer von Rewe. Sein Betrieb habe immer lose Ware geliefert. Die werde er nun nicht mehr los, das Kühllager sei bereits voll. Er habe also keine andere Wahl als die frischen Lebensmittel auf dem Acker zu vernichten.
 
Klingt wie ein weiterer, typischer Lebensmittelskandal: Der Einzelhandel hat jedes Bewusstsein für den Wert von Lebensmitteln verloren, gefährdet die Existenz von Kleinbauern und fördert obendrein noch die unsägliche Praxis, alles in Plastik einzuschweißen. Scheint alles zu passen.
 
Wir geben zu: Als wir das Video am Wochenende gesehen haben, juckte es uns in den Fingern, es wie mittlerweile 85.000 andere Facebook-Nutzer sofort und mit einem bösen Kommentar versehen zu teilen. Die Verschwendung von Lebensmitteln zu bekämpfen und der kleinbäuerlichen Landwirtschaft eine Perspektive jenseits der Abhängigkeit von den Supermarktriesen zu schaffen, ist schließlich grundlegender Teil der Marktschwärmer-Idee.
 
Trotzdem haben wir das Video nicht geteilt, sondern zuerst bei Rewe nachgefragt, ob sie sich zu den Vorwürfen äußern möchten. Immerhin ist Rewe der Einzelhändler, den der Landwirt im Video zuerst nennt. Die Antwort von Raimund Esser, Leiter der Unternehmenskommunikation bei Rewe, kam prompt:

Wir können die Aktion des Erzeugers weder nachvollziehen noch gutheißen. Der Landwirt ist uns nicht bekannt und beliefert auch die Rewe nicht direkt. Richtig ist, dass der Erzeuger Mitglied in einer Vermarktungsgenossenschaft ist, die die Rewe Region Süd regional mit verschiedenen Gemüseartikeln beliefert. Die Aussage des Landwirts, dass eine Abnahme von Minigurken durch Rewe in 2017 geplant sei, ist schlichtweg falsch. Zwischen der genossenschaftlichen Erzeugergemeinschaft, in der der Landwirt Mitglied ist, und der Rewe Zentrale gab und gibt es sowohl in der Vergangenheit als auch in diesem Jahr keinerlei vertragliche Abmachungen über die Abnahme von Minigurken.

 
Wir können das nicht überprüfen, aber es erlaubt zumindest gesunde Zweifel an der Version der Geschichte im Facebook-Video. Weiter schreibt Rewe uns:

Grundsätzlich vermarktet Rewe sowohl unverpackte Minigurken von lokalen oder regionalen Erzeugern als auch Minigurken in der Pappschachtel mit einer Folie drum.

 
Diesen Teil der Aussage konnten wir ganz leicht überprüfen – durch einen kurzen Abstecher zum nächsten Rewe-Supermarkt heute Morgen. Und siehe da: unverpackte Minigurken. Direkt daneben zwar auch Salatgurken in der völlig unnötigen Plastikfolie – aber die Behauptung aus dem Video, Rewe verkaufe jetzt nur noch Minigurken in Plastik, hält unserer Stichprobe nicht stand.
 
Mittlerweile hat auch der Bayerische Rundfunk die Aufregung über das Video aufgegriffen und unter anderem bei Edeka nachgefragt. Dort sagt man ebenfalls:

“Wir bieten den Artikel Minigurken seit Jahren in beiden Formen – je nach Vorliebe der Kunden – lose und verpackt an.”

 
Wenn man sich zwingt, die Geschichte ohne alle verständlichen Emotionen zu betrachten, bleibt am Ende von der “Riesensauerei” in diesem Fall wenig übrig. Ein Sprecher des Bayerischen Bauernverbands vermutet in dem Bericht des Bayerischen Rundfunks, dass der Landwirt von der “Fränkischen Illustrierten” “ein bisschen missbraucht” wurde.
 
Dieser Fall ändert gar nichts am absurden Ausmaß der täglichen Lebensmittelverschwendung, die gut dokumentiert ist und auch bei uns immer wieder thematisiert wird. Gerade der Lebensmittelhandel könnte aus unserer Sicht seine Marktmacht viel mehr nutzen, um endlich eine nachhaltige Agrarwende einzuleiten.
 
Warum schreiben wir die Geschichte dann überhaupt auf? Weil sie zeigt, dass ein Aspekt in der Diskussion um unsere Lebensmittel immer wieder zu kurz kommt: Vertrauen. Wer unser Vertrauen als Verbraucher will, darf es nicht durch falsche Skandale kaputtmachen. Sonst darf er sich nicht wundern, wenn ihm beim nächsten wirklichen Skandal niemand mehr zuhört.
 
Übrigens: Heute Nachmittag vermeldete die “Fränkische Illustrierte”, die das Video hochgeladen hat, dass die gesamte Gurkenernte gerettet werden konnte. Der Landwirt bot die Gurken zum Preis von zehn Euro pro zehn Kilo für Selbstabholer an. Offenbar nahmen Verbraucher aus der gesamten Region das Angebot an. Das ist vielleicht das einzig Schöne an dieser verzwickten Geschichte: Egal, ob sie auf einer Falschmeldung basierte oder nicht, der Großteil der Lebensmittel wird am Ende gegessen werden – und nicht weggeworfen.

Mehr über Marktschwärmer erfährst Du auf unserer Webseite und unserer Facebook-Seite.

Über den Autor

Volker Zepperitz

Volker Zepperitz ist dort unterwegs, wo man die ökologische Ernährungswende bereits sehen und am Besten auch schmecken kann. Er ist Journalist und hat Politische und Wirtschafts-Kommunikation in Berlin und London studiert. Seit 2016 kümmert er sich als Pressesprecher der Marktschwärmer darum, die Bewegung bekannter zu machen und die Diskussion über faires, nachhaltiges Essen anzutreiben.

Kommentare

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *