“Heute sind wir eine stärkere Gemeinschaft als vor Corona” – Im Interview mit unser regionalen Botschafterin Fanny Schiel

Den Aufbau von Schwärmereien unterstützen, regelmäßige Gastgeber*innen Treffen organisieren und Pilotprojekte anschieben – als regionale Botschafterin übernimmt Fanny Schiel aus Dresden viele zusätzliche Aufgaben. Die junge Unternehmerin hat ihre erste Schwärmerei im November 2016 eröffnet, seitdem ist viel passiert. Im Interview berichtet sie von der Entwicklung ihrer Schwärmereien, den größten Herausforderungen der letzten Jahre und motiviert zum Weitermachen mit inspirierenden Geschichten aus dem Netzwerk.

Wie bist du zu Marktschwärmer gekommen und was hat dich motiviert, eine eigene Schwärmerei aufzubauen?

Ich habe eine Zeit lang in Frankreich studiert und kann mich daran erinnern, dass ich dort zum ersten Mal von dem Konzept „Wind bekommen“ habe, ohne wirklich zu wissen, was es eigentlich ist. Als ich dann 2015 zurück nach Berlin gekommen bin, wurde es plötzlich auch hier bekannt, allerdings noch unter dem alten Namen “Food Assembly”. Kurz danach bin ich zurück in meine Heimat nach Dresden gezogen und habe direkt geschaut, ob es den regionalen Feierabendmarkt auch hier vor Ort gibt. In meinem Stadtteil sah die Nahversorgung eher dürftig aus und für mich als Berufstätige wurde es unmöglich, am Freitagvormittag auf dem Markt einzukaufen. So kam dann eins zum anderen. Ich hatte das große Bedürfnis, bessere Lebensmittel von regionalen Erzeuger*innen zu beziehen, so wie ich es aus meiner Studienzeit im Ausland kannte. Im November 2016 habe ich die Marktschwärmerei in Dresden Friedrichstadt eröffnet. Sie ist mein erster und jetzt größter Standort mit ca. 3700 Mitgliedern. Bald eröffne ich meinen vierten Standort in Dresden Pieschen.

 

Wie wurde das Konzept am Anfang angenommen und wie hat sich deine Schwärmerei seitdem entwickelt?

Der Aufbau meiner ersten Schwärmerei hat damals recht lange gedauert. Das Konzept war in Deutschland zu dem Zeitpunkt noch sehr neu und es gab nur wenige Standorte in Berlin, Köln und, immerhin, Chemnitz. Im Februar 2016 habe ich das erste Mal Kontakt zu den Marktschwärmern in Berlin aufgenommen. Bis zur Eröffnung hat es dann noch 9 Monate gedauert. Am Anfang musste ich sehr viel Überzeugungsarbeit leisten und vor allem Erzeuger*innen den Aspekt der digitalen Vorbestellung über die Plattform erklären. Ich habe viele Personen in Einzelgesprächen „angequatscht” oder Infostände z. B. auf dem Handmade oder Streetfood Markt in Dresden organisiert. Einige Erzeuger*innen haben mir angeboten, dass ich mich zu ihrem Marktstand dazustelle, um dort von dem Projekt zu erzählen und Flyer zu verteilen, um weitere Mitglieder für die Schwärmerei zu gewinnen. Auf diese Weise habe ich auch einige neue Erzeuger*innen kennengelernt und von dem Konzept überzeugt. Lange Zeit hatte ich einen starken Engpass bei den Molkereiprodukten. Es mussten viele Gespräche mit Betrieben geführt werden, bis ich eine ansprechende Produktvielfalt anbieten konnte. Zu der Zeit hatte ich gerade erst einen neuen Job in einem IT-Startup angenommen, habe aber bald gemerkt, dass dieser Bereich nicht das Richtige für mich ist. Parallel lernte ich so viel Neues über Landwirtschaft, was mir viel mehr Freude bereitet hat. Die Nachfrage aus anderen Stadtteilen wurde immer größer, die Erzeuger*innen waren motiviert und angespornt von dem außergewöhnlichen Gemeinschaftsgefühl und der positiven Resonanz, sodass ich anderthalb Jahre später meinen zweiten Standort in Dresden Striesen eröffnet habe. Seit dem wachsen wir gemeinsam weiter.

Was sind aktuell die größten Herausforderungen für deine Erzeuger*innen und wie können Verbraucher*innen und das Marktschwärmer-Konzept dazu beitragen, diese Herausforderungen zu lösen?

Ich sehe die Herausforderung für Erzeuger*innen vor allem im Bereich der Logistik. Viele haben nicht die Zeit, mehrmals die Woche in die Stadt zu kommen und bei den Verteilungen anwesend zu sein. Dabei ist gerade dieser persönliche Kontakt zwischen den Erzeuger*innen und Kund*innen unglaublich wichtig. Bei den Verteilungen können die Erzeuger*innen Aufklärungsarbeit leisten. Kund*innen haben die Möglichkeit, Fragen zu stellen und den Erzeuger*innen Rückmeldung zu ihren Produkten zu geben. Ich bin relativ strikt was das Thema Anwesenheit angeht und wünsche mir, dass die Erzeuger*innen regelmäßig vor Ort sind. Ist das nicht möglich, müssen individuelle Lösungen gefunden werden. 

Eine weitere Herausforderung sind die gestiegenen Preise beim Verpackungsmaterial, vor allem bei der Glasware. Zwar haben wir in den Schwärmereien schon ein Pfandsystem für Glasware entwickelt, aber nicht alles kommt in so einem Zustand zurück, dass man es wiederverwenden kann. Gläser, Eierpappen und Papiertüten nehmen wir nur zurück, wenn sie sauber sind. Es ist schwierig diese Botschaft bei den Verbraucher*innen richtig zu platzieren. An dieser Stelle ist sehr viel Geduld und Feingefühl gefragt. Jeder darf etwas beitragen – wir bleiben nur in Gemeinschaft nachhaltig erfolgreich.

Welche extra Aufgaben übernimmst du als regionale Botschafterin und wie hat sich dein regionales Netzwerk entwickelt, seitdem du regionale Botschafterin bist? 

Ich übernehme vor allem beratende Tätigkeiten, unterstütze Gastgeber*innen im Aufbau ihrer Schwärmereien und schaue, wo wir in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen noch nicht vertreten sind, um dort gezielt Standorte anzuschieben. Als Botschafterin organisiere ich regelmäßig Gastgeber*innentreffen für die Regionen Lausitz, Mittelsachsen, Leipzig und Westsachsen, um den Austausch und die Zusammenarbeit unter den Gastgeber*innen zu fördern. 

Zusätzlich bin ich gemeinsam mit dem Projektteam aus Berlin an der Organisation von Satellitenprojekten beteiligt. Im Moment haben wir eine Kooperation mit der Deutschen Bahn am Laufen und planen die Eröffnung von Bahnhofsschwärmereien in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Ich übernehme die Bewerbung der Standorte und baue dort Gastgeber*innen- und Erzeuger*innen-Netzwerke auf. An dieser Stelle leiste ich als Botschafterin besonders viel Struktur- und Kommunikationsarbeit. 

Als meine Gastgeberinnen-Tätigkeit mehr als ein Hobby wurde, habe ich meinen Job in der IT aufgegeben und über einen Gründungszuschuss den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt. Eigentlich war mir schon mit der Eröffnung meines dritten Standortes klar, dass ich das hauptberuflich machen möchte. Am Anfang habe ich noch alle Standorte selbst betreut. Mittlerweile habe ich drei Mitarbeiterinnen eingestellt, die sich jeweils um einen Stammstandort kümmern.

Im letzten Jahr haben alle Schwärmereien einen starken Zuspruch erfahren – du und deine Erzeuger*innen standen aber gleichzeitig durch Lockdown-Maßnahmen vor großen Herausforderungen: Kannst du uns trotzdem eine schöne Geschichte oder Anekdote aus dieser Zeit teilen, an die du dich selbst gern erinnerst?

Im letzten Jahr gab es immer wieder Anfragen von Kund*innen, die uns gerne unterstützen wollten. Einige sind regelmäßig in die Schwärmerei gekommen und haben mich bei der Verteilung unterstützt und „einfach angepackt“. Das berührt mich immer – wenn Kund*innen ein Teil von uns werden wollen statt „nur“ einzukaufen. Daraus ist zum Beispiel eine meiner jetzigen Mitarbeiterinnen entstanden. Dafür war und bin ich sehr dankbar.

Durch die Pandemie haben wir auch einige Gastronom*innen dazugewonnen, die über Marktschwärmer fertig zubereitete Mahlzeiten und hochwertige Convenience-Produkte im Glas angeboten haben. Einige Gastronom*innen sind auch jetzt noch dabei und verarbeiten Produkte von unseren Erzeuger*innen weiter. Das ist dann einer meiner Lieblingsmomente, wenn ich von so einer Kooperation erfahre. Zuletzt gab es zum Beispiel von unserem Bäcker ein sehr leckeres Spargelbrot – mit Spargel von unserem Spargelhof. Oder aber: Erzeuger*innen, die in der Vergangenheit nur alle 14 Tage da waren, sind durch Corona in den wöchentlichen Turnus übergegangen. Langsam merke ich aber, dass das Normalgeschäft wieder los geht.

Viele Erzeuger*innen sind im letzten Jahr an ihre Belastungsgrenze gestoßen. Wir hatten binnen zwei Wochen plötzlich eine Verdopplung der Bestellzahlen. Die Erzeuger*innen haben sehr viel gearbeitet und ihre Kapazitätsgrenzen voll ausgeschöpft. Die Stimmung war teilweise sehr angespannt, die Verteilungen hektisch, die Logistik verzögert und fehleranfällig. In Sachsen wurden neben der Gastronomie auch urplötzlich die Wochenmärkte für zwei Wochen geschlossen. Viele Erzeuger*innen sind in große Sorge geraten und hatten durchaus Existenzängste. Es waren Momente zwischen Aufschwung, mit sehr viel Motivation, bei gleichzeitiger Panik, Ungewissheit und Angst vor weiteren Einschränkungen, die auch unsere Verteilungen in den drei Schwärmereien und Sachsen insgesamt hätten betreffen können. Zum Glück konnten die Schwärmereien unter Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln die ganze Zeit über geöffnet bleiben. Alles hat sich irgendwie „zurechtgeruckelt“. Im Nachhinein aber hielt die Zeit für uns alle ein paar sehr emotionale Momente bereit. Die tiefe Dankbarkeit der Kund*innen und das starke Gemeinschaftsgefühl haben aber über den gesamten Lockdown-Zeitraum zum Durchhalten motiviert – und wir sind heute eine stärkere Gemeinschaft als vor Corona. Das macht mich stolz.

 

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Marktschwärmer

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