Köln hat einen, Berlin jetzt auch, in Hamburg bahnt sich was an, auch Kassel und Oldenburg haben die Signale gehört. In Frankfurt/M, Freiburg, München und anderswo wird noch beraten. In verschiedenen deutschen Städten gründen sich derzeit Ernährungsräte, wie es sie bereits als Food Policy Councils in Großbritannien, den USA und Kanada gibt.
Ernährungsräte: Bürgerinnen und Bürgern schließen sich zusammen, um in ihrer Stadt und Region nach Alternativen in der Lebensmittelherstellung, der Essensversorgung und der Landwirtschaft zu suchen, Veränderungen anzustoßen und durchzusetzen. Schon ist von einer neuen Ernährungsbewegung die Rede.
Was macht die Stadt der Zukunft satt?
Immer mehr Menschen auf der Erde leben in Städten, bald werden es mehr als die Hälfte sein. All diese Menschen wollen essen, und dies benötigt viele Ressourcen: Land, Energie, Transportkapazitäten, bis hin zur Verwertung dessen, was an Resten und Abfällen vom Verarbeiten, Kochen und Essen übrig bleibt.
Insbesondere in den schnell wachsenden Ballungszentren in Asien und Afrika ist das ein großes Problem. Die stadtnahe Landwirtschaft, die bislang die Versorgung gewährleistet hat, ist ständig auf der Wanderung vor den explodierenden Stadtgrenzen. Sie konkurriert zudem noch um die Fläche, die zur Herstellung des Baumaterials für die Städte benötigt wird – Brot gegen Backstein. Dies alles trägt heute und in Zukunft zu ernsthaften Versorgungsrisiken der großen Städten auf der südlichen Halbkugel bei.
Ein Vulkan reißt Lücken im Supermarkt
In Europa und den USA sieht die Sache auf den ersten Blick weniger dramatisch aus. Hier drohen aktuell weder Versorgungskrisen noch Hungersnöte in Großstädten. Obwohl – als es im Jahr 2010 infolge des Ausbruchs des Vulkans Eyjafjallajökull auf Island zu einer riesigen Aschewolke und einer tagelangen Einstellung des Luftverkehrs über Europa kam, sollen die Supermarktregale in London angeblich schon deutlich sichtbare Lücken aufgewiesen haben, weil die Belieferung der Stadt per Flugzeug nicht mehr möglich war. Vielleicht ein Zeichen?
Experten raten jedenfalls auch in unseren Breiten zu einer stärkeren Resilienz in der Lebensmittelversorgung, also einer höheren Widerstandsfähigkeit und Flexibilität mit Ausweichmöglichkeiten im Falle von Krisen aller Art, großräumigen Natur- oder Umweltkatastrophen, Stromausfällen… Zu stark ist die einseitige Abhängigkeit von den kommerziellen Lieferketten der Supermarktketten und Handelskonzerne, das Fehlen regionaler Versorgungsalternativen, die geringe Vorratshaltung im Handel und in privaten Haushalten.
Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass anläßlich der Expo 2015 in Mailand mehr als 100 Städte weltweit den Milan Urban Food Policy Pactunterzeichnet haben, in welchem sie sich zu einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Ernährung bekennen. Aus Deutschland waren immerhin Berlin und Frankfurt/M dabei, weitere sind inzwischen hinzugekommen.
Intransparenz und anonyme Märkte
In Europa gab es zu Zeiten des Städtewachstums während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert einen ähnlichen Prozess, wie wir ihn heute in Afrika oder Asien beobachten. Wurden zuvor viele Lebensmittel in der Stadt selbst oder in unmittelbarer Nähe der Siedlungsräume angebaut, geerntet, verarbeitet oder hergestellt und auf lokalen Märkten gehandelt, so kommen heute die Produkte in den Supermärkten in der Regel von sehr weit her.
Die Lebensmittelproduktion ist inzwischen so globalisiert, dass fast alles von dem, was in der jeweiligen Region, in der wir leben, angebaut oder hergestellt wird, normalerweise dort nicht gehandelt und konsumiert wird, sondern auf weit entfernte, anonyme Märkte entschwindet. Das, was es vor Ort zu kaufen gibt, kommt hingegen von ganz woanders her, meistens ist völlig unklar, woher.
Einige Tausend Kilometer Reise sollen die Bestandteile eines durchschnittlichen Supermarktprodukts heute in Europa hinter sich haben. Der Wirtschaftsjournalist Paul Trummer hat in Pizza globale einmal detailliert nachverfolgt, woher die Bestandteile einer Tiefkühl-Pizza stammen. Da kommt ganz schön was zusammen.
Städte haben die Lebensmittelversorgung sich selbst überlassen
Heute werden allenfalls noch Großmärkte von den Städten betrieben und einige Wochenmärkte. Noch vor wenigen Jahrzehnten hingegen hatten die Städte und Gemeinden wichtige Teile der Infrastruktur für die Lebensmittelversorgung ihrer Einwohner selbst bereitgestellt wie Schlachthöfe, Markthallen, Lagerhallen, Transportmöglichkeiten, Kantinen, Suppenküchen, Schulspeisung u.a.m.
Heute haben die Stadtverwaltungen, so scheint es, jeglichen Einfluss auf Produktion, Qualität, Herkunft, Logistik und Handel von Lebensmitteln aufgeben. Es scheint den Stadtoberen egal zu sein, wo und wie die Bürgerinnen und Bürger ihr Essen herbekommen, ob es die Menschen krank macht, ob es das Geld in der Region hält, ob auch die sozial Schwachen an gute Lebensmittel kommen, unter welchen ökologischen Bedingungen produziert wird.
Aus passiven Konsumenten werden aktive Bürger
Seit einiger Zeit wird immer klarer, dass sich viele Verbraucher mit ihrer Rolle als passive “Konsumenten” nicht länger zufrieden geben wollen, die ihnen die Marktwirtschaft zugedacht hat. Im Supermarkt allein “mit dem täglichen Einkaufskorb” abstimmen zu dürfen, was, wo, wie und mit welchen Folgen produziert wird und in den Regalen des Lebensmittelhandels landet oder nicht, das genügt ihnen nicht mehr.
Sie wollen vielmehr als mündige Bürger politisch Einfluss nehmen, mitentscheiden und mitgestalten – ebenso wie bei anderen wichtigen Themen in ihrer Stadt: bei der Verkehrspolitik, dem Bau von Kitas und Wohnungen, der Gestaltung von Grünflächen zur Naherholung, der städtischen Energie- oder Wasserversorgung.
Bisher galt, dass Politik, die sich mit Landwirtschaft, der Herstellung von Lebensmitteln und Ernährungsfragen befasst, in Brüssel, in den Ministerien in Berlin oder denen der Bundesländer gemacht wurde. Und dass sich entsprechend Aufrufe, Appelle, Proteste oder gar Demonstrationen gegen Brüssel, Berlin oder an die Verantwortlichen in den großen Nahrungskonzernen richteten.
Die Chance für den Wandel liegt vor der Haustür
“Über unser Essen wird in Konzern-Zentralen und europäischen Behörden entschieden, immer weiter weg von uns. Wir wollen das wieder in unsere Hände nehmen und auf lokaler Ebene nachhaltige Strukturen in der Landwirtschaft unterstützen,” sagt der Filmemacher Valentin Thurn, der zwei vielbeachtete Dokumentationen über die Zukunft unseres Essens gedreht hat (Taste the Waste, 10 Milliarden). Nun hat er den Ernährungsrat Köln mit ins Lebens gerufen.
Das Neue ist, dass Menschen vor Ort selbst aktiv werden, die Dinge in ihrer Stadt in Angriff nehmen und zum Besseren verändern wollen. Die neue Ernährungsbewegung ist kommunal und regional. Sie strebt nach Ernährungssouveränität, also der demokratischen Mitsprache bei der Lebensmittelversorgung, nach Stärkung der regionalen Produktion, nach sozial gerechten und ökologisch verantwortungsbewußten Strukturen. In der Regel arbeitet sie dabei eng mit der Stadtverwaltung zusammen, wenn es sein muss, geht sie aber auch in die Auseinandersetzung, um den lokal verantwortlichen Politikern Beine zu machen.
Eine kluge Kommunalpolitik erkennt rechtzeitig das Potenzial, das die Aktivitäten der ernährungsaktiven Bürger für das Gemeinwesen bedeuten können.
Eine Politik des Essens auf städtischer Ebene, Mitsprache von Bürgerinnen und Bürgern, Teilhabe der Stadtgesellschaft bei Lebensmitteln, wie soll das praktisch gehen?
Der Stadtplaner Philipp Stierand aus Dortmund hat seit einigen Jahren diese neue Bewegung verfolgt und mit seinem Buch Speiseräume. Die Ernährungswende beginnt in der Stadt mit angestoßen. In einem gleichnamigen Blog finden sich viele aktuelle Beispiele, Links und Ressourcen, die die Breite und Vielfalt der kommunalen Ernährungsbewegungen in aller Welt zeigen. Fast wöchentlich kommen neue Informationen, Ereignisse, Ansätze und Akteure hinzu.
Wie sieht es in deiner Stadt aus?
Die Nord-Süd-Organisation Inkota-Netzwerk beschäftigt sich ebenfalls bereits länger mit Ernährungssouveränität und fördert die Gründung von Ernährungsräten in Städten. Auf ihrer Internetseite finden sich nützliche Informationen, die zeigen, wie man einen Ernährungsrat in seiner Stadt gründen kann.
Food Assembly begrüßt die sich entwickelnde Bewegung. Im Ernährungsrat Köln arbeitet eine Assembly-Gastgeberin verantwortlich mit und in Berlin hat Food Assembly im April 2016 die Gründung des Ernährungsrats unterstützt. Die Ziele der Ernährungsräte, Transparenz und Regionalität in der Lebensmittelversorgung, eine enge Vernetzung von Stadt und Land, die Förderung stadtnaher und regionaler bäuerlicher Landwirtschaft, das sind ebenso zentrale Anliegen der Food Assembly.
So wie es ausschaut, gewinnt die Idee, über die Zukunft des Essens auch in der Stadt mitzubestimmen, in Deutschland zunehmend Anhänger und Unterstützer. Vielleicht stimmt es: hier entsteht eine ganz neuartige Ernährungsbewegung. (ut)
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