“Das Potenzial an Menschen, die sich nachhaltiger und regionaler ernähren wollen, hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt”, beobachtet Valentin Thurn. Wenn einer spürt, dass da gerade richtig etwas in Bewegung kommt, dann ist es der Ernährungsaktivist, Autor und preisgekrönte Filmemacher von Dokus wie “Taste The Waste”.
Wir haben mit Valentin Thurn über sein neues Buch “Genial Lokal” gesprochen. Darin stellen seine Co-Autoren Gundula Oertel, Christine Pohl und er die Idee der lokalen Ernährungsräte vor, die nicht weniger wollen als unser Ernährungssystem von unten zu revolutionieren.
Marktschwärmer: Eurem neuen Buch “Genial lokal” liegt eine zentrale Annahme zugrunde: “Essen ist politisch!” Was meint Ihr damit?
Valentin Thurn: Wenn wir beim Einkaufen im Supermarkt aus dem Vollen schöpfen, ohne groß nachzudenken, dann lösen wir Prozesse aus, die wir vielleicht gar nicht wollen – die aber trotzdem passieren.
Wir stützen damit ein System, dass das Klima anheizt, dass Bauern dazu zwingt, möglichst viel Chemie zu verwenden und in großen Monokulturen zu arbeiten und dass gleichzeitig Kleinbauern in der Dritten Welt nicht nur ausbeutet, sondern auch von ihrem Land vertreibt. Dieses System beruht auf immer billigeren Preisen.
Natürlich kann nicht jeder Einkauf zur Doktorarbeit werden – aber wenn wir uns beim Einkaufen überlegen, wo unser Essen herkommt, dann ist das eine durch und durch politische Handlung.
Marktschwärmer: Ihr beschreibt im Buch den Gegentrend zu diesem Konsum, der blind ist für seine Folgen. Wie sieht der Widerstand gegen das globale Ernährungssystem aus, der sich da in Form von Ernährungsräten formiert?
Valentin Thurn: Ernährungsräte sind ein Versuch, die Ernährungswende auf der untersten politischen Ebene anzugehen. Kommunen und Landkreise haben sich bisher kaum für das Thema Ernährung zuständig gefühlt. Die haben vielleicht einzelne Aktionen gemacht, aber überhaupt keine kohärente Strategie.
Ernährungsausschüsse findet man in keinem Stadtrat, die gibt es nur auf Landes- und Bundesebene. Wir glauben aber, dass sich auf der Ebene wenig bewegen wird, weil die Lobbies da fest installiert sind und die Politik abhängig ist von diesen Lobbyisten.
Auf kommunaler Ebene ist das noch anders. Wir denken, dass Kommunen sehr wohl Kompetenzen bei diesem Thema haben. Vielleicht nicht bei der Festlegung von Grenzwerten, das bleibt sicher immer Sache des Bundes oder der EU. Aber Kommunen können zum Beispiel bei lokalen Märkten gestalten: Sie können regionale Bauern unterstützen, die in die Stadt hinein verkaufen möchten, etwa durch Projekte wie die Marktschwärmer.
Kommunen können auch in die Schulbildung eingreifen und schon bei Kita- und Schulkindern ein Ernährungsbewusstsein schaffen. Sie können auf kommunalen Grünflächen für ihre Bürger Angebote schaffen. Stichwort: Essbare Stadt. Kurz, die unterste politische Ebene könnte schon sehr viel machen.
Mit der Bewegung der Ernährungsräte wollen wir diese kommunalen Handlungsspielräume nutzen. Die Idee ist noch relativ jung: Wir haben in Köln vor knapp drei Jahren angefangen und gehörten damals zu den ersten in Deutschland. Inzwischen gibt es etwa ein Dutzend Ernährungsräte, die bereits gegründet sind – und ein weiteres Dutzend in Gründung.
Marktschwärmer: Was kann so ein Ernährungsrat ganz konkret erreichen?
Valentin Thurn: Das Potenzial erkennt man sehr gut bei einem Blick in die USA und nach Kanada, England oder Brasilien, wo wir diese Idee “hergeklaut” haben: Dort betreiben Ernährungsräte zum Beispiel so genannte Food Hubs. Das sind Verteil- und Verarbeitungszentren für Essen aus der Region, wie wir sie auch in deutschen Städten wieder dringend bräuchten. Wir hatten die hier in der Vergangenheit auch, aber sie wurden durch zentrale Strukturen ersetzt.
Die deutschen Ernährungsräte sind noch nicht so weit, aber wir haben andere Leuchtturmprojekte: In Berlin hat gerade an 275 Schulen die Regiowoche stattgefunden, in der eine Woche lang ausschließlich regional gekocht wurde. Eine tolle Sache! Der Effekt so einer Aktion geht über die eine Woche hinaus, da wird was hängen bleiben: Die Schulköche werden merken, dass das funktioniert.
Ohne die Ernährungsräte wäre es anstrengend, so etwas mit einzelnen Landwirten zu planen und umzusetzen. Aber durch die Hilfe des Ernährungsrates ist da eine Lieferbeziehung zwischen Stadt und Umland entstanden, die politisch gewollt ist. In Köln haben wir ein ähnliches Projekt im Aufbau, bei dem Kita-Kantinen längerfristig von Bauern aus der Region beliefert werden wollen.
In Köln setzen wir auch gerade die Idee der Essbaren Stadt um, für unseren Ernährungsrat das erste richtig große Projekt: Da organisieren sich Bürgergruppen in mehreren Stadtvierteln, um öffentliche Grünflächen mit essbarem Grün zu bepflanzen, damit jeder dort etwas ernten kann. Und genau darum geht es: Die Essbare Stadt schafft so auch Begegnungsorte, an denen Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten und mit verschiedener Herkunftsgeschichte zusammenkommen, die vielleicht nebeneinander wohnen, aber sich bisher nicht kennen. Sozusagen der Kit für die multikulturelle Gesellschaft.
Marktschwärmer: Für wen habt Ihr das Buch geschrieben: Muss ich mich schon mit Ernährungsräten beschäftigt haben? Oder gebt Ihr auch Neulingen erste Anreize, wie und wo man sich vor Ort engagieren kann?
Valentin Thurn: Das Buch ist zweigeteilt: Der erste Teil ist eine Analyse zur Frage: Was läuft da eigentlich schief in unserem Ernährungssystem? Dazu schauen wir weltweit, welche Ansätze zur Verbesserung es gibt. Unser Blick reicht vom Lokalen bis nach Südkorea, wo die weltgrößte Solidarische Landwirtschaft mit 1,5 Millionen Mitgliedern gegründet wurde und gut funktioniert.
Der zweite Teil des Buches ist die sehr praktische Antwort auf die Frage: Wie gründe ich denn ein lokales Netzwerk? Wir haben Tipps und Empfehlungen von A bis Z zusammengetragen: Was kann man richtig machen? Wo lauern Fallstricke? Wie komme ich mit meiner Stadtverwaltung in Kontakt?
Diesen praktischen Ansatz möchten wir weiter ausbauen zu einem deutschlandweiten Netzwerk. Nicht als eine zentrale Struktur, sondern als Möglichkeit zum Wissenstransfer online und in Seminaren. So wollen wir den Gruppen helfen, die ohnehin schon parallel am selben Ziel arbeiten: Initiativen im Umweltschutz, Slowfood, aber auch kommerziellen Playern, zum Beispiel kleinen Gastwirten oder auch den Marktschwärmern. Diese Kräfte zu bündeln, ist die eigentliche Aufgabe von Ernährungsräten, nicht in jeder Stadt das Rad neu erfinden zu müssen.
Marktschwärmer: Lass uns zum Schluss in die Zukunft schauen: Wenn sich die Ideen von Ernährungsräten durchsetzen, wie sieht für Dich dann unser Ernährungssystem in zehn oder zwanzig Jahren aus?
Valentin Thurn: Zuallererst: Es wird mehr Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften geben, in denen der Verbraucher sein Essen direkt von Landwirten seiner Region bezieht. Diese Landwirte werden dann nicht mehr alle bio-zertifiziert sein müssen. Wenn man den Erzeuger kennt, braucht man die Zertifizierung nicht mehr unbedingt, die ja auch relativ teuer ist. Das kann in Zukunft Bio-Qualität sogar etwas günstiger machen.
Aber auch der Handel wird auf diese Bewegung reagieren. Teilweise tut er das jetzt schon: Die regionalen Programme werden ausgebaut, schließlich will der Handel seine Kunden nicht verlieren. Vielleicht wird man es dort auch in Zukunft mit Mogelpackungen versuchen, wie es derzeit leider immer wieder der Fall ist. Ein Beispiel: Neulich hatte ich im Supermarkt eine Packung Buschbohnen mit einem Regional-Label in der Hand – als Herkunftsort war aber lediglich “Deutschland” angegeben. So ein Umgang mit Regionalität wird dem Handel aber irgendwann auf die Füße fallen: So wie es heute Bio-Skandale gibt, wird es in zukunft Regio-Skandale geben.
Aber es ist nicht unsere Aufgabe, das aufzudecken. Darum kümmert sich die Presse. Je dreister die Täuschung wird, umso mehr Ärger wird der Handel bekommen, und das ist auch gut so. Das wird sie dazu zwingen, ihre Regio-Angebote korrekter zu formulieren. Nur wird das noch etwas dauern, momentan bin ich noch nicht zufrieden mit dem, was die Supermärkte in diesem Punkt bieten.
Marktschwärmer: Ihr seht also vor allem einen Wandel im Einzelhandel durch mehr mediale Öffentlichkeit, oder auch durch wachsendes Bewusstsein beim Verbraucher?
Valentin Thurn: Beides! Supermärkte werden nicht wegfallen, aber das Potenzial an Menschen, die sich nachhaltiger und regionaler ernähren wollen, hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt und es wächst weiter. Wir sind jetzt eine große Minderheit von vielleicht einem Viertel der Verbraucher. Zwar trifft die Mehrheit ihre Kaufentscheidungen noch immer über den Preis, aber diese große Minderheit hat das Zeug, wirksame Insellösungen zu schaffen.
Ich vergleiche das mit der Energiediskussion in den Achtzigerjahren: Damals hat man uns gesagt: Ihr seid Spinner, wir brauchen billigen Atomstrom. Wir haben damals kleine lokale Insellösungen wie Wasserkraftwerke geschaffen. Und 30 Jahre später hat die Bundesregierung den Atomausstieg beschlossen. Zwar brauchte es dazu einen GAU, aber die Grundlage war die Erkenntnis, dass diese Insellösungen funktionierten.
Am gleichen Punkt stehen wir jetzt bei der Ernährungswende: Wir müssen beweisen, dass es auch anders geht. Ich glaube, dass die Bereitschaft der Politik zum Wandel wachsen wird, wenn Alternativen wie Solawi oder Marktschwärmer größer geworden sind. Es wird es heftigen Druck brauchen, um die Macht der Lobby zu brechen – hoffentlich braucht es nicht wieder einen GAU.
“Genial Lokal – So kommt die Ernährungswende in Schwung”
Von Valentin Thurn, Gundula Oertel, Christine Pohl, 288 Seiten, ist im Oekom Verlag München erschienen. Bitte nicht bei Amazon, sondern hier bestellen oder in Deiner lokalen Buchhandlung um die Ecke.
Volker Zepperitz ist dort unterwegs, wo man die ökologische Ernährungswende bereits sehen und am Besten auch schmecken kann. Er ist Journalist und hat Politische und Wirtschafts-Kommunikation in Berlin und London studiert. Seit 2016 kümmert er sich als Pressesprecher der Marktschwärmer darum, die Bewegung bekannter zu machen und die Diskussion über faires, nachhaltiges Essen anzutreiben.
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