Unter Wert verkauft: Wie Europas Landwirtschaft ums Überleben kämpft

Unsere Landwirt*innen sichern unsere Ernährung, während viele von ihnen selber ums Überleben kämpfen. Gefangen in einem globalisierten Agrarsystem, das Mensch und Natur ausbeutet, arbeiten sie hart – oft ohne fairen Lohn. Während wenige profitieren, stehen viele vor dem Ruin. Wie konnte es so weit kommen, und welche Wege führen aus der Krise?

„Einige von uns sind mit ihren Kräften am Ende – wir sehen, wie zahlreiche Höfe ihre Produktion aufgeben!“ Jean-Christophe Richard spricht mit einer Mischung aus Wut und Traurigkeit. Als Präsident der Confédération Paysanne im Département Loire-Atlantique in Westfrankreich und selbst Milchviehhalter erlebt er die Krise hautnah.

„Einige Erzeugergruppen, insbesondere Bio-Bauern, verkaufen ihre Milch derzeit unter den Produktionskosten! Mit diesem Modell steuern wir auf eine Katastrophe zu!“

Ein Viertel der französischen Rinder- und Schafbäuer*innen lebt unterhalb der Armutsgrenze – kein Wunder, dass die Bezahlung der Landwirt*innen in ganz Europa immer wieder für Proteste sorgt. Demonstrationen, blockierte Autobahnen und brennende Reifen sind Ausdruck eines tiefen Problems. Doch was sind die grundlegenden Mechanismen eines Systems, in dem Erzeuger*innen ihre Lebensmittel unter Wert verkaufen müssen?

Autor: Europäische Koordinierung Via Campesina

Pflaster auf ein kaputtes System

„Neben den gestiegenen Ölpreisen sind die Kosten für landwirtschaftliche Maschinen in den letzten drei Jahren um 30 % gestiegen, und der Sojapreis hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt“, sagt Jean-Christophe Richard. Doch trotz dieser steigenden Produktionskosten bleibt der Milchpreis für Landwirt*innen unverändert. Eine Studie der Fondation pour la Nature et l’Homme (FNH) zeigt, dass Landwirt*innen zwischen 2001 und 2022 vier Prozent weniger für einen Liter teilentrahmte Milch erhielten.

Gleichzeitig sind die Gewinne der Agrarindustrie an diesem Liter Milch um 64 % gestiegen – für Supermärkte sogar um unglaubliche 188 %! Die Landwirt*innen hingegen haben kaum Verhandlungsmacht. „Molkereien kaufen auch Milch aus dem Ausland, um uns zu zwingen, unsere Preise zu senken“, erklärt Jean-Christophe Richard. Vor 2015 war der Milchpreis für europäische Erzeuger*innen durch Quoten stabilisiert, die Überproduktion und Preisverfall verhinderten: „Das war gar nicht so schlecht geregelt. Meiner Meinung nach wurde die Deregulierung eingeführt, damit die Hersteller ihre Gewinnspannen erhöhen konnten.“

Auf dem unregulierten Weltmarkt, auf dem landwirtschaftliche Erzeugnisse oft unter Wert verkauft werden, bleibt den Bauern und Bäuerinnen nur eine Strategie: mehr produzieren, um ihr Einkommen zu halten. Dies ist die Linie der großen Bauernverbände wie der FNSEA in Frankreich und COPA auf europäischer Ebene: „Sie wollen Umweltauflagen abschaffen – alles, was die Produktion bremsen könnte“, so Richard. „Die FNSEA klebt nur Pflaster auf das System, indem sie ständig mehr Subventionen aus der gemeinsamen Agrarpolitik fordert oder Soforthilfen, wenn Treibstoff zu teuer wird oder ein Virus die Herden befällt. Denn hinter ihnen stehen die Interessen der Agrarkonzerne aus der Pestizid- und Landmaschinenindustrie.“

Die FNH-Studie stellt klar: „Ohne staatliche Subventionen, die im Schnitt 84 % ihres Jahreseinkommens ausmachen, könnten Landwirt*innen nicht überleben.“

Im Angesicht der Umweltkrise

Doch kann die Landwirtschaft ihre Produktion immer weiter steigern? „Unsere Produktion hängt stark vom Klima und der Gesundheit der Tiere ab – beides ist heute extrem unbeständig“, erklärt Jean-Christophe Richard. „2022, bei über 40 Grad, hatten wir Kühe, die Fehlgeburten erlitten – das ist eine Katastrophe. Die Umweltkrise bricht über uns herein, und wir Landwirte sind die Ersten, die den Klimawandel zu spüren bekommen.“ Eine doppelte Ungerechtigkeit: Die Landwirtschaft leidet unter den Folgen der ökologischen Zerstörung – und wird gleichzeitig dazu gedrängt, durch immer höhere Produktionsmengen das Problem noch zu verschärfen.

Doch die negativen Folgen der subventionierten europäischen Landwirtschaft enden nicht an den EU-Grenzen. Landwirt*innen in anderen Teilen der Welt werden in einen unfairen Wettbewerb gezwungen. Besonders umstritten ist das geplante Handelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur-Staatenbund. Alisha Sesum von der Europäischen Koordination Via Campesina warnt: „Dieses Abkommen zeigt, dass die EU-Kommission bereit ist, Landwirte und die Ernährungssicherheit ihrer Bevölkerung als Druckmittel einzusetzen – nur um die Profite einiger weniger multinationaler Konzerne zu maximieren.“

Autor: Europäische Koordinierung Via Campesina

Die meisten Landwirt*innen wollen keine Konkurrenz, sondern in Solidarität arbeiten, um gesunde Lebensmittel für ihre Gemeinschaften zu produzieren und dabei ein faires Einkommen zu erzielen. Doch solche Abkommen fördern unnachhaltige Produktionsmodelle und treiben immer mehr kleine und mittlere Betriebe in den Ruin. Viele Bauern und Bäuerinnen werden gezwungen sein, ihren Job aufzugeben. Passt das wirklich zu den langfristigen Zielen unserer Regierungen für den ländlichen Raum?

Millionen von Bauernhöfen neu pflanzen

Diese Frage wird immer dringlicher, denn in Europa schrumpft die Zahl der Landwirt*innen und die Bevölkerung wird älter. Zwischen 2003 und 2016 nahm die Zahl der Bauernhöfe in der EU-27 um 32 % ab. Laut Prognosen könnte bis 2040 noch einmal ein Verlust von 6,4 Millionen Höfen drohen. Der Hauptfaktor: In den nächsten zehn Jahren wird die Hälfte der Landwirt*innen in Rente gehen.

Autor: Stéphane Garner

Die Förderung des Einstiegs junger Menschen in die Landwirtschaft gilt als eine der zentralen Forderungen im Manifest für den Agrarwandel, das von 14 zivilgesellschaftlichen Organisationen an die europäischen Institutionen gerichtet wurde, um die systemischen Klimakrisen zu bekämpfen. Um 10 Millionen neue Bauernhöfe zu schaffen, fordert das Manifest, die EU-Richtlinie 2019/633 gegen unlautere Handelspraktiken in der Agrar- und Lebensmittellieferkette konsequent umzusetzen. Zudem wird ein ambitionierter Rahmen gefordert, der lokale Ernährungssysteme stärkt, indem mindestens 50 % der öffentlichen Beschaffungen von kleinen und mittleren Betrieben kommen. „Dieser Rahmen muss zudem kurze Lieferketten fördern und lokale sowie regionale Märkte anstelle von Supermärkten und Zwischenhändlern stärken“, heißt es im Text.

Auch das Thema globaler Handel wird angesprochen: „Die EU muss eine umfassende Reform der internationalen Handelspolitik im Bereich Lebensmittel anstoßen, die auf den Prinzipien der Ernährungssouveränität sowie sozialer und ökologischer Gerechtigkeit basiert. Das beginnt mit einem Verbot von Lebensmittelspekulationen, dem schrittweisen Ausstieg aus Freihandelsabkommen und der Förderung von Vorratshaltungen in Krisenzeiten“, heißt es weiter. „Die EU sollte außerdem internationale Mechanismen unterstützen, die es kleinen Produzent*innen weltweit ermöglichen, stabile und anständige Einkommen zu erzielen.“

Solche Maßnahmen könnten den Trend umkehren und den Landwirt*innen wieder Hoffnung geben – doch wird die Politik den Mut haben, diesen Kurs einzuschlagen?

Autor Aurélien Culat

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